Am 8. Januar 2023 kündigten die beiden Schweizer Detailhändler Migros und Coop starke Preiserhöhungen bei den Milchprodukten an.
Schon am nächsten Tag kostete ein 250-Gramm-Mödeli «Die Butter» neu 3.95 Franken. Zuvor lag der Preis bei 3.75 Franken, im Jahr 2007 waren es noch 2.65 Franken.
Als Grund nannten Migros und Coop die Erhöhung des Richtpreises für Molkereimilch im A-Segment um 3 Rappen auf 81 Rappen pro Kilo Milch, weil die Kosten der Milchproduzenten (LandwirtInnen) gestiegen sind.
Von den 3 Rappen mehr wurden den Milchproduzenten aber 2 Rappen gleich wieder abgezogen. Denn per 1. Januar 2023 müssen sie wieder die ursprünglichen 4,5 statt 2,5 Rappen pro Kilo für die nicht verkäste Milch in den Fonds Rohstoffverbilligung einzahlen.
Die Konsumenten bezahlen 20 Rappen mehr für ein 250-Gramm-Mödeli «Die Butter», das aus dem Milchfett von 5,5 Litern hergestellt wird. Die Milchproduzenten bekommen aber nur 5,5 × 1 Rappen = 5,5 Rappen mehr.
Und während alleine seit dem Jahr 2000 über 20'000 Schweizer Landwirtschaftsbetriebe die Milchproduktion aufgegeben haben, produzieren die verbleibenden Betriebe immer mehr Milch. Versteht das jemand?
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Wer macht im Schweizer Milchmarkt eigentlich was?
Wer bestimmt die Preise im Milchmarkt Schweiz? Und wer legt fest, wieviel davon die Milchproduzenten bekommen? Die Konsumenten und die Milchproduzenten wohl kaum. Die Politik und die Verwaltung auch nicht. Wer macht eigentlich was? Das ist die Frage, die wir in der neuen Serie «Milchmarkt Schweiz» stellen.
Wir beginnen eine Spurensuche, die uns quer durch die ganze Schweiz führen wird. Von der Dachorganisation Schweizer Milchproduzenten SMP über die Branchen-Organisationen, die Produzenten- und Verarbeiter-Organisationen bis zu den Milchverarbeitern (Unternehmen).
Nicht zu vergessen die beiden «orangen Elefanten» Migros und Coop. Und wir werfen einen Blick über die Landesgrenzen. Denn der Milchmarkt Schweiz war noch nie eine Insel. Der Weltmarkt beeinflusste schon immer den Schweizer Milchpreis.
Am Sitz der Dachorganisation der Schweizer Milchproduzenten SMP in Bern wartet SMP-Direktor Stephan Hagenbuch auf uns. Auf dem Tisch stehen ein Kaffee und eine spezielle Cremeschnitte mit zusätzlichen Schichten, die er als Demonstrationsobjekt nutzen wird.
Die Spurensuche beginnt bei der Dachorganisation SMP
Stephan Hagenbuch hat die Entwicklung vom «alten» Zentralverband schweizerischer Milchproduzenten ZVSM zur modernen Dachorganisation der Schweizer Milchproduzenten SMP miterlebt und mitgeprägt.
Der Ingenieur Agronom ETH arbeitet seit 1991 für die Milchbranche. Zuerst in Projekten zur langfristigen Entwicklung der Milchproduktion, ab 1999 als Leiter der SMP-Abteilungen «Agrarpolitik und Aussenhandel» und «Wirtschaft und Internationales». Seit 2016 ist Hagenbuch Direktor der Schweizer Milchproduzenten SMP.
Die SMP vertritt heute nicht «nur» die Interessen der Milchproduzenten auf gesellschafts- und wirtschaftspolitischer Ebene. Sie bietet mit rund 100 Vollzeitstellen vielfältige Dienstleistungen und Informationen an. Unter anderem für Wirtschaft und Politik, Produktion und Verarbeitung, sowie Marketing, Ernährungsberatung und Übersetzung.
Der Schweizer Milchmarkt ist eine vielschichtige Cremeschnitte
Aber zurück zum Schweizer Milchmarkt. So wie dieser in den letzten 150 Jahren gewachsen ist, sei er tatsächlich auch für die Milchproduzenten schwierig zu verstehen, gibt Hagenbuch zu. (Mehr zur Geschichte: «Wie das Milchpreis-Räderwerk entstand»).
Um den Schweizer Milchmarkt mit seinen vielen Marktteilnehmern zwischen Kuhstall und Supermarkt zu erklären, nimmt der SMP-Direktor die spezielle Cremeschnitte zur Hilfe:
«Der Schweizer Milchmarkt ist so vielschichtig wie diese Blätterteig-Cremeschnitte – mit Dutzenden von Marktteilnehmern mit jeweils unterschiedlichen Aufgaben, die in vielen Schichten miteinander agieren.»
Die Marktteilnehmer agieren übereinander, nebeneinander und teilweise auch gegeneinander. «Che casinò!», würden die Landwirte im Ticino sagen. Aber Stephan Hagenbuch erklärt geduldig – und beginnt bei der SMP.
Elf regionale Milchproduzentenorganisationen bilden die SMP
[IMG 3]Die SMP ist eine Genossenschaft von elf regionalen Milchproduzenten-Organisationen (hier finden Sie die Details zu den elf Mitglieds-Organisationen mit einer Infografik). Als Dachorganisation vertritt die SMP die Interessen der 17'500 Schweizer Milchproduzenten auf gesellschaftspolitischer und wirtschaftspolitischer Ebene.
Die Präsidenten und Geschäftsführer der SMP-Mitgliedsorganisationen vertreten die Interessen ihrer Region in der SMP. Und sie sind umgekehrt für die Umsetzung der SMP-Beschlüsse in ihrer Region zuständig.
Jede Mitgliedsorganisation ist in der SMP-Delegiertenversammlung mit mindestens zwei Mitgliedern und im SMP-Vorstand mit mindestens einem Mitglied vertreten. Die übrigen Sitze werden proportional zur vermarkteten Milchmenge auf die Mitglieder verteilt. Die grösste Mitgliedsorganisation VMMO Vereinigte Milchbauern Mitte-Ost mit 710 Mio Kilo Milch hat zum Beispiel 2 plus 37 Delegierte.
Die Branchenorganisationen BO Milch, BO Butter und BO Milchpulver
[IMG 2]In der Cremeschnitte des SMP-Direktors zur Visualisierung des Schweizer Milchmarktes ist die Dachorganisation Mitglied der Branchenorganisationen BO Milch, BO Butter und BO Milchpulver sowie von Switzerland Cheese Marketing und den verschiedenen Käse-Sortenorganisationen. Müsste es nicht umgekehrt sein? Das Dach ist normalerweise zuoberst.
«Die Frage ist immer, aus welchem Blickwinkel man das Dach anschaut», erklärt Hagenbuch verschmitzt und wechselt das Thema. (Das Verhältnis der BO zur SMP werden wir in einer späteren Folge der Serie klären.)
Die PO und PMO sind die Auslaufmodelle im Schweizer Milchmarkt
Die nächste Schicht unserer Cremeschnitte sind die 30 Produzentenorganisationen PO und 13 Produzenten-Milchverwerter-Organisationen PMO. Der SMP-Direktor hat die Bildung dieser Organisationsformen miterlebt.
Mit der Abschaffung der Milchkontingentierung ab 2006 wollte die SMP ein «Pooling» einführen. Gemeint ist damit eine branchenübergreifende Bündelung der Molkereimilch mit wenigen Verkaufsorganisationen und einer wirksamen Mengensteuerung.
«Stattdessen entstanden bis 2009 die PO und PMO. Milchproduzenten, die mehr Mengen produzieren und deshalb früher aussteigen wollten, mussten solche Organisationen gründen», erklärt Hagenbuch.
«Die einen Milchproduzenten bildeten einen eigenen kleinen Pool und damit eine PO. Andere organisierten sich mit einem Verarbeiter zusammen in einer PMO.» Damals herrschte im Schweizer Milchmarkt ein regelrechter «Goldrausch» – der stante pede zu einem Mengenüberschuss führte.
Unter 5 Prozent ist man im Milchmarkt eine «Quantité négligeable»
[IMG 4]Im «Goldrausch» glaubten viele PO und PMO, dass sie auch mit kleinen Mengen den Milchpreis beeinflussen könnten. Und heute?
SMP-Direktor Hagenbuch sagt es pointiert: «Wer nicht mindestens 150 bis 200 Millionen Kilo Milch in seinen Tanks hat, hat keinen Einfluss auf den Milchpreis!»
Unter 5 Prozent der Schweizer Milchmenge ist man ökonomisch gesehen «Preisnehmer». Also ein Unternehmen, das den herrschenden Marktpreis als gegeben akzeptieren muss.
Vier Verarbeiter und zwei Detailhändler bestimmen den Markt
[IMG 5]Ökonomisch gesehen hat der Schweizer Milchmarkt zwei Flaschenhälse:
1. Dem ersten Flaschenhals haben die Ökonomen den schönen altgriechischen Namen Oligopson gegeben. Er hat den weniger schönen Effekt, dass 17'500 Milchproduzenten nur wenige Einkäufer gegenüberstehen.Die Anbieter haben wenig Einfluss auf die Preisbildung. Wenn sie ihre Verluste durch eine grössere Produktion ausgleichen wollen, führt das stattdessen zu einem weiter sinkenden Preisniveau.
2. Im nächsten Flaschenhals sind auf der einen Seite die grossen Verarbeiter Emmi, Hochdorf, Cremo und ELSA, auf der anderen Seite die grossen Detailhändler Migros und Coop.
«Jedes Kilo Schweizer Milch muss durch diesen Flaschenhals», erklärt der SMP-Direktor. Die vier Verarbeiter und die zwei Detailhändler bestimmen also Angebot und Nachfrage – und damit den Milchpreis (zusammen mit anderen Faktoren, auf die wir in einer späteren Folge dieser Serie noch detailliert eingehen).
«Die SMP kann den Milchpreis nicht in den einzelnen Verhandlungen beeinflussen», erklärt Hagenbuch. Aber sie könne politisch auf den Milchpreis einwirken.
Die SMP beeinflusst den Milchpreis stärker, als viele glauben
«So muss zum Beispiel der Grenzschutz für Schweizer Milch und Milchprodukte jedes Mal aufs Neue politisch erkämpft werden», betont Stephan Hagenbuch. Ein Beispiel dafür sei der Veredelungsverkehr, bei dem immer noch Milch aus dem Ausland importiert werden darf, um sie in der Schweiz zu Käse zu veredeln und später wieder zu exportieren.
Zum Grenzschutz gehöre auch die Verkäsungszulage von jährlich 300 Millionen Franken, mit welcher die Konkurrenzfähigkeit vom Käse als wichtigstes landwirtschaftliches Exportprodukt gesichert wird. Auch diese müsse immer wieder neu verteidigt werden.
Und die Verkäsungszulage wirke sich auf die ganze «weisse Linie» aus (die im Unterschied zur «gelben Linie» alle Milchprodukte ausser Käse und Quark umfasst), betont Hagenbuch: «Eine hohe Verkäsungszulage bedeutet einen hohen Grenzschutz und damit auch einen hohen Milchpreis für die Milchproduzenten.»
Einfluss auf den Milchpreis nimmt die Dachorganisation SMP auch als Mitglied der BO Milch. Deren Vorstand legt seit dem Ausstieg aus der Milchkontingentierung 2009 zusammen mit anderen Marktakteuren die Politik der Fonds und den Richtpreis für Milch im A-Segment quartalsweise fest. Dieser war noch nie so hoch wie aktuell.
Der A-Richtpreis orientiert sich an der bisherigen Preisentwicklung für Molkereimilch, an der vergangenheitsbezogenen Kostenentwicklung für landwirtschaftliche Produktionsmittel – und am «zweiten Flaschenhals» mit den vier grossen Milchverarbeitern und den zwei grossen Detailhändlern.
Der Milchmarkt Schweiz ist keine isolierte Insel
Und eines dürfe man nicht vergessen: Der Schweizer Milchmarkt ist der einzige Bereich der Schweizer Landwirtschaft, der nennenswerte Mengen exportiert. «Ein Drittel der Milchmenge geht grösstenteils als Käse in den Export», erklärt Hagenbuch.
Wenn nun der Milchmarkt in der Europäischen Union unter Druck gerät, wie jetzt gerade im Frühling 2023, und wenn der Wechselkurs schwankt, dann hat das sofort Auswirkungen auf den Schweizer Milchmarkt.
Seit 2019 wird der «Grüne Teppich» als Branchenstandard ausgerollt
2019 wurde der Branchenstandard «Nachhaltige Schweizer Milch» eingeführt – auch als «Grüner Teppich» bekannt. Im Handel werden die Produkte als «swissmilk Green» gekennzeichnet, eine geschützte Kennzeichnung im Besitz der BO Milch.
Konsumentenorganisationen kritisieren diese drei Namen für einen einzigen Standard, den viele Konsumenten zudem noch für ein Label halten. Und Tierschutzorganisationen kritisieren, dass dieser Standard punkto Tierwohl relativ schlecht abschneidet.
Hagenbuch setzt sich aber für den «Grünen Teppich» ein: «Ein Standard hat eine sehr grosse Hebelwirkung – auch auf den Milchpreis. Wir haben damit einen Zuschlag von 3 Rappen pro Kilo A-Milch erreicht. Das sind hochgerechnet 45 Mio Franken für die Milchproduzenten. Und das ohne ein Label zu konkurrenzieren.»
Der «Grüne Teppich» sei ein gutes Beispiel dafür, dass die Schweizer Milchproduzenten innovativer sind, als ihnen von Politik, Medien und Gesellschaft zugetraut wird. «Die Welt steht nicht still, Schweizer Milch kann nicht nur teurer sein – sie muss auch besser sein!»
Transparenz-Hinweis
«die grüne» gehört zur Schweizer Agrarmedien AG, die im Besitz der Schweizer Milchproduzenten SMP, verschiedener nationaler und regionaler Bauernverbände sowie dem Schweizer Bäuerinnen- und Landfrauenverband SBLV ist.
Die Redaktion ist jedoch unabhängig von den Besitzerverbänden. Dies gilt auch für die Recherchen zur neuen Serie «Milchmarkt Schweiz».