Ab den 1960er-Jahren haben die Schweizer Landwirte ihre vermeintlich rückständige und unwirtschaftliche Nutztier-Haltung umgestellt auf enge Stallhaltung bei den Kühen, Kastenstände bei den Schweinen und Käfigbatterien beim Geflügel.
Ab den 1980er-Jahren mussten sie wieder umstellen. Genau in die Gegenrichtung. Für die Landwirte und deren Nutztiere war das 20. Jahrhundert wie kein Zeitalter zuvor geprägt von einem extremen Auf und Ab bei Haltung und Schutz von Kühen, Schweinen und Hühnern.
Auslauf für die Nutztiere in den 1920er- bis 1940er-Jahren
Zwischen den beiden Weltkriegen, also von 1919 bis 1939, hatte das Tierwohl in der Schweiz einen hohen Stellenwert. Es wurde von Bauern-Funktionären vehement von deren Berufskollegen eingefordert.
Ernst Laur, Agronomie-Professor für Betriebswirtschaft an der ETH Zürich und erster Direktor des Schweizer Bauernverbandes, stellte in den krisengeschüttelten 1920er- und 1930er-Jahren immer wieder die Wichtigkeit von Auslauf und Weiden für Nutztiere heraus.
«Sind die Tiere einmal an den Aufenthalt im Freien gewöhnt, so scheut man sich nicht, sie auch im Winter ins Freie zu lassen, sorgt aber für warme Stallungen, in die sie sich jederzeit zurückziehen können», schrieb Laur den Landwirten und Studenten ins Stammbuch.
Auslauf und Freiland für Nutztiere auch in den 1950er-Jahren
In den 1950er-Jahren waren in der Schweiz Offenställe für Kühe Mode geworden. Wobei regelmässiges Weiden in der Vegetationsperiode von April bis Oktober selbstverständlich war. Zum Tränken kamen die meisten Rinder auch im Winter täglich zwei Mal aus den Ställen.
Bereits damals existierten Betriebe, die tausende von Legehennen hielten. Diese verteilten sich auf kleinere Einheiten in mehreren Hühnerhäuschen auf der grünen Wiese.
Zur Gesunderhaltung und als anerkanntes Gesundheits-Sanierungsverfahren von Zuchtsauen-Herden galt das sogenannte schwedische System mit Hüttenhaltung im Freiland. Auch den Mastschweinen standen Auslauf ins Freie und eingestreute Ställe zur Verfügung.
Bezeichnenderweise kursierte damals unter Tierärzten und Agronomen der Spruch «Wo die Sonne nicht hinkommt, kommt der Tierarzt hin.»
Ab den 1960er-Jahren wurde die Nutztierhaltung «industrialisiert»
Ab den 1960er-Jahren liessen sich Forschung, Beratung und Bauern von ausländischen Entwicklungen blenden und setzten sich über den eigenen tierhalterischen Wissens- und Erfahrungsschatz hinweg. Die zuvor als gesundheitsfördernd propagierten Auslauf- und Freilandhaltungen wurden als rückständig und unwirtschaftlich verteufelt.
Als modern galt, wer seine Nutztiere ganzjährig auf engstem Raum im Stall hielt. Als Mittel der Wahl für die Sanierung von Schweine-Populationen kam anstelle der bewährten Freilandhütten-Haltung das SPF-Verfahren (specific pathogen free) in Mode: Hochträchtige Sauen wurden mittels Kaiserschnitt entbunden und die Ferkel in möglichst keimfreier und artwidriger Umgebung aufgezogen.
Die Firma Wander-Ovomaltine führte für ihre Eier-Produktion als Erste die in den 1930er-Jahren in den USA entwickelten Käfigbatterien ein. Diese begannen sich ab den 1960er-Jahren in der Schweiz bei «modernen» Geflügelwirten durchzusetzen.
Hart traf es auch die Schweine. An einem eng gezurrten Riemen um die Brust angebunden oder lebenslänglich in einen Kastenstand gesperrt, so stellte sich die brutale Realität für Generationen von Muttersauen dar!
Viele der einst mit Recht stolzen Schweizer Viehzüchter verloren ihre Verbundenheit mit den Kühen und liessen sich von den angeblichen Vorzügen der dauernden Anbinde- und Stallhaltung mit extrem kurzen, kahlen Lägern überzeugen und verzichteten fortan auf das Weiden.
Sie beerdigten ihre eigenen Vorstellungen und Ziele zur Tierzucht und begannen, Genetik zu importieren. Man liess das Freiburger Schwarzfleckvieh in den 1980er-Jahren aussterben. Die auf Zweinutzung gezüchteten «Original» Simmentaler- und Braunvieh-Kühe stellen heute nur mehr kleine Populationen dar.
Ebenso wie die tierschutzwidrigen Stallsysteme wurde in dieser Zeit auch der routinemässige Einsatz von Antibiotika und Hormonen zur Leistungssteigerung von Masttieren aus dem angeblich so fortschrittlichen Ausland übernommen.
Widerstand gegen die Ausnutzung der Nutztiere ab 1981
Allerdings regten sich in der Schweiz relativ rasch starke gesellschaftliche Kräfte gegen diese Tier-Ausnutzung unter dem Deckmantel von Wissenschaft, Ökonomie und Fortschritt.
Nach langen parlamentarischen Beratungen und einer Volksabstimmung trat 1981 eine vergleichsweise umfassende Tierschutz-Gesetzgebung in Kraft. Sie erlangte weltweit Berühmtheit durch das Verbot der Hühner-Käfigbatterien und wurde in der Folge mehrmals angepasst.
2005 verabschiedete das Parlament ein komplett überarbeitetes Tierschutzgesetz. Matchentscheidend für die Entwicklung des Tierwohls waren aber die Ende der 1980er-Jahre breit aufkommenden Tierwohl-Label sowie die 1996 ins Leben gerufenen Bundesbeiträge zur Förderung besonders tierfreundlicher Produktionsformen.
Beide Massnahmen ergänzen sich bis heute auf fruchtbare Art und Weise und brachten die Schweizer Nutztier-Haltung – trotz bestehender Mängel –weltweit gesehen auf den höchsten Standard.
Wie sich die Nutztier-Haltung seit 1981 verbessert hat
Innert einer Generation mussten die Schweizer Landwirte tierhalterisch gesehen umdenken und umlernen. Damit verbunden waren grosse Investitionen in neue Ställe.
Im Rückblick und im Vergleich zur Entwicklung im Ausland spricht Hansuli Huber von einer Tierschutz-Erfolgsstory. Verschwunden sind seit den 1980er-Jahren:
Alle Nutztiere
- Permanente Anbindehaltung von Kälbern, Rindern, Kühen, Ziegen und Pferden
- Dauerbeleuchtung, reine Kunstlichtbeleuchtung und Dunkelhaltung in Ställen zwecks höherer Mastleistung
- Permanente Einzelhaltung
- Extrem stark mit Tieren belegte Buchten und Abteile
- Verfüttern von Tier- und Fischmehl sowie von gentechnisch veränderten Pflanzen
- Tiertransporte länger als sechs Stunden
- Hormone und Antibiotika zur Steigerung der Mastleistung
Rinder
- Maulkörbe für Kälber
- Enthornen ohne Schmerzausschaltung
Schweine
- Herausbrechen von Zähnen bei Saugferkeln
- Kastrieren ohne Schmerzausschaltung
- Anbinde- und Kastenstandhaltung (Ausnahme: Deckzentrum)
Geflügel, Kleinwiederkäuer und Kleintiere
- Käfigbatterien für Hühner und Kaninchen
- Brillen für Zuchtgeflügel
- Kupieren von Schnäbeln und Schwänzen (Ausnahme: Schafe)
Pferde
- Export von Schlachtfohlen
«Zentimeter-Tierschutz» war ein Riesenfehler
Den heutigen Tierwohl-Standard hätte man gemäss Hansuli Huber (Ex-Geschäftsführer vom Schweizer Tierschutz STS) mit deutlich weniger Investitionen und Kosten für die Bauern erreichen können:
«Es war im Nachhinein gesehen ein Riesenfehler, dass man bei der Formulierung von tierschützerischen Ausführungsbestimmungen und beim behördlichen Vollzug viel zu lang den ‹Zentimeter-Tierschutz› in den Vordergrund stellte.»
Politik und Behörden hätten konsequenter auf den qualitativen statt den quantitativen Tierschutz setzen müssen:
- freie Bewegung samt Auslauf oder Weide
- Tageslicht und frische Luft
- Platz und Strukturen, um arteigenes Verhalten ausleben zu können.
Ebenso hätte man Aufstallungssysteme wie Vollspaltenböden verbieten sollen, mit genügend langen Übergangsfristen oder zumindest für Neu- und Umbauten.
So aber waren die Schweizer Landwirte gezwungen, immer wieder viel Geld in den «Zentimeter-Tierschutz» zu investieren, was ihnen weder am Markt noch beim Image etwas einbrachte – und für die Tiere oft genug einer kosmetischen und wenig spürbaren Verbesserung gleichkam.
Der Nutztier-Schutz ist in der Schweiz eine Erfolgsstory
Besonders erfreulich: Dank der staatlichen Förderprogramme für Besonders tierfreundliche Stallhaltungssysteme BTS und Regelmässiger Auslauf ins Freie RAUS sowie der privaten Bio- und Tierwohl-Label haben seit 2012 beispielsweise vier von fünf Kühen, Legehennen, Ziegen, Schafen, Pferden und Truten Auslauf und Weidegang sowie zwei von drei Schweinen und Mastrindern Auslauf und eingestreute Liegeflächen. Sie werden damit deutlich besser gehalten, als es die Tierschutzgesetzgebung vorschreibt. Das sind weltmeisterliche Werte.
Auch das wohl Wichtigste beim Tierwohl, der Umgang mit den Tieren und ihre Pflege, hat sich auf vielen Höfen in den vergangenen Jahrzehnten verbessert, was auch der tiefere Verbrauch von Antibiotika bezeugt.
Demgegenüber erschweren die wirtschaftlich geforderten grossen Tierbestände und die zunehmende Mechanisierung im Stall die wichtige Mensch-Tier-Beziehung. Mit Blick auf die positive Entwicklung beim Nutztierschutz in den vergangenen vierzig Jahren besteht allerdings berechtigter Grund zur Annahme, dass motivierte, fachkundige und tierfreundliche Schweizer Bauern auch diese Herausforderung meistern werden.
Der Autor: Hansuli Huber
Hansuli Huber ist auf einem Bauernhof im Zürcher Weinland aufgewachsen und studierte an der ETH Zürich Agronomie.
1985 begann er als Berater für Nutztierfragen beim Schweizer Tierschutz STS. Als STS-Geschäftsleiter hat Huber die Organisation von 1998 bis Ende 2018 zur wichtigsten Tierschutz- Organisation der Schweiz entwickelt.