Kurz & bündig
- Christof Widmers Kälber trinken mindestens drei Monate lang auf dem Geburtsbetrieb Milch: Zuerst bei der Mutter, dann bei einer Amme, schliesslich ab dem Eimer.
- Danach verkauft Widmer die Kälber an seinen Partnerbetrieb, der einige aufzieht, die meisten aber ausmästet.
- Martin Kaske, Leiter des KGD, sieht dies als vielversprechenden Ansatz, um die Kälbergesundheit zu verbessern und damit auch den Verbrauch von Antibiotika zu senken.
Der Stall ist leer. Die Kühe grasen auf der Weide. Die Kälber sind bereits an den Nachbarn verkauft. Dort, wo im Frühjahr die Abkalbebox eingerichtet ist, sind nun Heuballen aufgestapelt. Martin Kaske lässt sich trotzdem alles zeigen und genau erklären.
Kaske, Tierarzt und fachlicher Leiter des Kälbergesundheitsdiensts KGD sowie bei Rindergesundheit Schweiz, ist auf Betriebsbesuch bei Bio-Landwirt Christof Widmer. Er hat Martin Kaske um einen Besuch gebeten, um abzuklären, ob er für die Teilnahme am Projekt «Zuhause gross werden» geeignet ist. Im Projekt geht es darum, Kälber auf dem Geburtsbetrieb abzutränken (Projektinformationen siehe Kasten).
Augenmerk auf der Kolostrumaufnahme
Etliche der Projektanforderungen erfüllt Widmer bereits. Seine Kälber bekommen schon heute mindestens drei Monate lang Milch, bevor Widmer sie auf dem eigenen Betrieb abtränkt.
Dabei liegt ein besonderes Augenmerk auf der Kolostrumaufnahme: «Das Kalb bleibt rund zwei Tage mit der Mutter in der Abkalbebox und kriegt so genügend Kolostrum», erklärt Widmer.
Danach wird das Kalb eine Box weitergetrieben. Dort trifft es auf andere Kälber sowie drei Ammenkühe. Bis zu neun Kälber werden hier zusammen gehalten und können zwischen zwei und vier Wochen lang bei den Kühen saugen. Anschliessend geht es wiederum eine Station weiter, an die Milchbar, an der die Kälber mit dem Nuggi aus dem Eimer zu trinken lernen. Ab Tag eins haben die Kälber Zugang zu Heu und Wasser.
Betriebsspiegel der Familie Widmer
Christof Widmer und Monique Mettraux Widmer, Sempach LU
LN: 26 ha
Kulturen: Getreide, Kunstwiese, Naturwiese, Weide, 100 Hochstammbäume
Tierbestand: 37 Milchkühe, 5 bis 9 Aufzuchtkälber, restliche Kälber als Mastremonten, 2500 Mastpoulets
Arbeitskräfte: Christof Widmer, ein Lehrling, Aushilfspersonal
Kälbermanagement profitiert von saisonaler Abkalbung
Diese Stationen machen ganze Kälbergruppen gemeinsam durch. Möglich macht das die saisonale Abkalbung, die Christof Widmer umsetzt – was übrigens auch den leeren Stall Mitte November erklärt. «Im Januar findet die erste Geburt statt. Sechs Wochen später sollten 75 Prozent der Kälber auf der Welt sein», erklärt Widmer den Zeitplan.
Wir haben eine Verantwortung gegenüber dem Tier.
Christof Widmer, Landwirt
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Martin Kaske erfragt diese und viele weitere Details zur Kälberhaltung der Familie Widmer. Christof Widmer erzählt, dass er seit drei Jahren keine Antibiotika mehr bei den Kälbern einsetzt. Die Kälber seien gesund, mit Durchfall haben sie keine Probleme.
«Durch das saisonale Abkalben entsteht eine lange Pause, in welcher der Keimdruck abnimmt, bevor die nächsten Kälber zur Welt kommen. Das kommt mir sicher zugute», sagt Widmer.
Nach der Milch kommt das Gras – ganz ohne Kraftfutter
Ende Mai verkauft Christof Widmer alle Kälber an seinen Nachbarn, der ebenfalls einen Bio-Betrieb führt. Dort werden die Kälber grösstenteils auf der Weide gehalten. Kraftfutter erhalten sie nicht, was sich übrigens auch später, als Kuh im Stall von Widmers, nicht ändert. Das ist von Bedeutung für die Zuchtarbeit, bei der sich Widmer auf Rassen wie Kiwi Cross oder Swiss Fleckvieh verlässt, um gute Weide-Verwerterinnen zu erhalten.
Einige Kuhkälber, fünf bis neun Stück, ziehen die Nachbarn Gina Niederberger und Andreas Baumann im Aufzuchtvertrag für Widmers auf. Die restlichen Tiere mästen sie und verkaufen sie am Ende als Bio-Weiderind grösstenteils via Direktvermarktung sowie an Aldi.
Gute Zusammenarbeit mit dem Nachbarn
Die Zusammenarbeit zwischen den Nachbarn besteht seit fünf Jahren. Es sei für beide eine positive und zufriedene Sache, sagt Widmer: «Dank der saisonalen Abkalbung müssen die Tiere meist nur einen teuren Winter lang im Stall gefüttert werden.» Die restliche Zeit sind sie auf der Weide.
«Am Ende verkaufen Gina und Andreas rund 30 schlachtreife Tiere im Herbst, wenn die Schlachtvieh-Preise gut sind», so Christof Widmer. Die Direktvermarktung läuft indes das ganze Jahr über.
Widmer selbst erhält von den Nachbarn fix 500 Franken mehr pro Tier für die rund zwei Monate, die sie länger auf dem Geburtsbetrieb stehen.
Beide Betriebe profitieren von der guten Kälbergesundheit, durch die sie Pflegeaufwand und Tierarztkosten sparen, so Widmer.
Transporte strapazieren das Immunsystem
Für Christof Widmer ist insbesondere die Tiergesundheit und das Tierwohl zentral: «Es ist mir wichtig, dass die Kälber möglichst lange bei mir bleiben und die Transportwege auch nach dem Verkauf kurz sind», sagt Widmer. Denn Kontakte mit Kälbern von anderen Betrieben sowie Transporte strapazieren das Immunsystem eines Kalbs.
Das Verstellen der Kälber geschieht typischerweise im Alter von drei Wochen, zu einem Zeitpunkt, an dem die passive Immunisierung langsam abnimmt und die aktive Immunisierung noch nicht richtig hochgefahren ist. Mit anderen Worten: Es geschieht zu einem Zeitpunkt, an dem die Widerstandskraft der Kälber geschwächt ist.
Die Herausforderungen der Kälbermast
In der Folge werden Kälber vermehrt krank und müssen mit Antibiotika behandelt werden. «Das will ich nicht. Ich bin der Meinung, dass wir hier eine Verantwortung gegenüber dem Tier, aber auch gegenüber einem qualitativ hochwertigen Fleischprodukt übernehmen müssen», sagt Christof Widmer.
Es gibt keine simple, allgemein gültige Lösung, die für jeden Betrieb passt.
Martin Kaske, Leiter KGD
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Laut aktuellen Schätzungen des Bundesamts für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen BLV werden etwa 30 Prozent aller bei Nutztieren eingesetzten Antibiotika an Kälber verabreicht. Im Hinblick auf zunehmend resistente Keime ist eine Verminderung dieses Einsatzes von Antibiotika notwendig.
«Die Herausforderungen in der Kälberhaltung und - mast sind bekannt. Wir wissen auch, was helfen könnte. Doch es gibt keine simple, allgemein gültige Lösung, die für jeden Betrieb passt», sagt Martin Kaske.
«Sie übernehmen bei Überangebot auf dem Markt»
Schwarz-weiss ist die Situation also nicht. Als besonders problematisch bezüglich Antibiotika wird die professionelle Integrationsmast angesehen. Dort kommen viele Kälber von unterschiedlichen Betrieben zusammen. «Der Antibiotika-Einsatz ist hoch. Trotzdem hat auch diese Produktionsart grundsätzlich ihre Berechtigung», sagt Kaske.
«Sie verfüttern den Kälbern Nebenprodukte aus der Milchindustrie und veredeln diese somit. Ausserdem übernehmen sie die Kälber bei einem jahreszeitlichen Überangebot auf dem Markt.» So komme es, dass die Schweiz Probleme rund um Überschusskälber eigentlich nicht kenne, sagt Kaske.
Bei Christof Widmer führen individuelle Ansätze wie die Ammenkühe und der lange Verbleib auf dem Geburtsbetrieb zum Erfolg. «Never change a winning team – bloss nichts verändern, wenn es den Kälbern gut geht», kommentiert Martin Kaske. «Den Vorplatz der Kälbergruppenhaltung muss er noch etwas ausbauen. Danach ist Christof Widmer für die Teilnahme am Projekt bestens geeignet.»
Projekt «Zuhause gross werden»
Die Kälber verbleiben bis zum Abtränken im Alter von 120 Tagen auf dem Geburtsbetrieb. Gehen sie anschliessend auf einen registrierten Partnerbetrieb, darf dieser ausschliesslich Tiere von einem einzigen Geburtsbetrieb nehmen.
Im Projekt werden bis Ende 2026 40 Bio-Milchviehbetriebe besucht und die Daten ihrer Kälber ausgewertet. Der KGD berät die teilnehmenden Betriebe und übernimmt ausserdem die wissenschaftliche Auswertung der Ergebnisse.
Lanciert wurde das Projekt anfangs 2022 von Bio Luzern.