Kurz & bündig
- Die Landwirtin, Älplerin und Sennin Rita Widmer muss nebst der täglichen Arbeit viel organisieren und delegieren.
- Die Alp ist alles andere als zeitlos: Uhr und Thermometer begleiten Rita Widmer von früh bis spät.
- Heuen und Emden: Der Spagat zwischen Alp- und Talbetrieb ist eine grosse Herausforderung.
- Widmers haben keine klassische Rollenverteilung. Das war ihr grosses Glück, als Reto Widmer plötzlich ins Spital musste.
Es ist 4.30 Uhr, Ende Juli auf der Glarner Alp Bösbächi. Draussen erwacht langsam das Leben. Die Älpler machen sich auf und holen die Milchkühe und die Geissen von der Weide in den Stall. Eine Kuh nach der der anderen geht in einen der drei Ställe an ihren Platz. Alles geht ruhig und noch etwas verschlafen zu und her.
In der Sennerei hingegen herrscht schon geschäftiges Treiben. Ländler dröhnt aus dem Radio während Rita Widmer den Ofen neben dem Käse-Kessi einfeuert.
Rita Widmer ist 34 Jahre alt, gelernte Landwirtin und zusammen mit ihrem Mann Reto Pächterin der Alp Bösbächi. Mit ihren 301 ha und 148 Stössen ist die Alp Bösbächi eine der grössten Alpen im Glarnerland. Die Alp ist aufgeteilt in drei Stafel und die Weideflächen erstrecken sich von 1200 bis 2000 m ü. M.
Die Alp ist sehr divers: Neben den 70 Milchkühen und 50 Milchgeissen sömmern Widmers 125 Rinder. Dazu kommen 35 Alpschweine und es gibt ein Gästehaus mit Massenlager für bis zu 18 Personen. Das Älplerteam ist dementsprechend gross. Neben Rita und Reto Widmer gehören vier Mitarbeiter zum Team. Und in den Sommerferien immer mit dabei sind die Kinder Markus (9) und Felix (7).
4.50 Uhr - Spagat zwischen Alp und Tal
Mittlerweile surrt der Generator. Die Melkmaschinen sind im Gang. Rita Widmer hat gerade die Milch des Vorabends entrahmt. Die bereits produzierte und abgewogene Butter vom Vorabend nimmt sie mit in die Küche. Mit zwei Holzkellen schlägt sie die ein Kilo schweren Butterstücke in Form und packt sie ein. Jeder Handgriff sitzt. Dazwischen macht Rita Widmer Kaffee für das ganze Team und startet eine Maschine mit Wäsche. «Wenn der Generator wegen den Melkmaschinen läuft, muss ich das Zeitfenster nutzen», erklärt Widmer. Sie ist froh um die Waschmaschine. «Sonst müsste ich die ganze Wäsche mit ins Tal nehmen und dort waschen.»
Der Talbetrieb befindet sich in Niederurnern GL, eine Stunde Autofahrt von der Alp entfernt. Widmers kauften sich das kleine Heimetli im Jahr 2012, unweit von Ritas elterlichem Betrieb. Das regnerische Wetter kommt ihr im Moment gelegen, so muss sie sich nicht um das Emd auf dem Talbetrieb Gedanken machen.
«Aber nächste Woche wird es schön», sagt die Landwirtin. Dann muss sie runter ins Tal. «Der Spagat zwischen Alp und Tal ist für jede Alpwirtschaft eine Herausforderung», sagt die Landwirtin. Sie bleibe oft so lange unten, bis das Emd im Trockenen sei. Und meistens gebe es noch unzählige Sachen, die sie organisieren, erledigen, bringen oder holen muss.
«Auf der Alp fehlt während diesen Tagen eine Person», sagt Widmer. Die anderen müssen dementsprechend mehr arbeiten.
5.00 Uhr - Rita Widmer ist ein Kraftbündel
Zurück in der Sennerei nimmt Rita Widmer die Käselaibe vom Vortag aus der Form und fast die Ränder vorsichtig mit dem Messer ab. Beschriftet mit dem Datum und dem Etikett des Glarner Alpkäse AOP hievt sie jeweils zwei Käselaibe aufs Mal ins Salzbad.
Kanne um Kanne bringen die Mitarbeitenden die Milch in die Sennerei. Beim Einschütten ins Kessi packt Widmer mit an. Danach legt sie Holz nach. Das Kessi wärmt sich langsam auf. 32 Grad warm soll die Milch werden.
Rita Widmer packt die Geisskäse-Mutschli vom Vortag aus der Form. Dann beschriften und ab ins Salzbad. Dazwischen gibt es immer wieder was zu waschen.
Rita Widmer ist ein Kraftbündel. Dass sie nicht einmal 160 cm gross ist, tut dem keinen Abbruch. «Während der Lehrzeit musste ich mich aber immer wieder beweisen», sagt Widmer. Ihr Lehrmeister wollte sie erst gar nicht mit auf die Alp nehmen, weil er ihr die schwere Arbeit nicht zutraute. «Ich bin schon ein bisschen stolz, dass ich heute eine so grosse Alp führen darf.»
6.45 Uhr - Freud und Leid liegen nahe
Die letzte Milch ist im grossen Kessi und Rita Widmer reinigt jetzt sämtliches Melkgeschirr, die Eimer und die Kannen. Das Kessi fasst 1500 Liter. Die Landwirtin stellt an diesem Tag 12 Laibe Alpkäse her. Die Milchmenge nimmt jetzt kontinuierlich ab, denn immer mehr Kühe gehen galt. Und die Nährwerte des Grases sinken gegen Herbst.
Im Mai 2020, zu Beginn der Alpsaison, gab es täglich gar 20 Laibe Alpkäse. Für einen Laib braucht es 65 Liter Milch. Im kleineren Kessi nebenan entstehen aus 150 Litern Kuhmilch-Mutschli. Die Ziegenmilch stellt Rita Widmer kühl. Diese Milch verarbeitet sie nur jeden zweiten Tag.
Eigentlich wäre Rita Widmer die Chefin über das Vieh und das Büro, und ihr Mann Reto der Chef über die Sennerei, also über die Käseherstellung. «Aber wir haben hier auf der Alp keine klassische Rollenverteilung», erzählt Rita Widmer. Sie schätzen beide die Abwechslung und tauschen auch einmal die Rollen. «Dass wir beide alles können, war dieses Jahr unser grosses Glück, als mein Mann für fast drei Wochen ausfiel», erzählt Widmer.
Reto Widmer wurde Ende Juni plötzlich krank. «Sehr krank sogar», erzählt Rita Widmer. Sie wussten nicht, was er hatte. «Diese Ungewissheit war heftig.» Eine Woche lang musste er wegen einer schlimmen Darmentzündung und einer daraus resultierender Blutvergiftung im Spital bleiben. Seit ein paar Tagen ist er wieder auf der Alp. «Zwar noch etwas reduziert, aber er ist wieder da», erzählt Rita Widmer, sichtlich erleichtert.
Für das Älplerteam bedeutete das, gleich doppelt anzupacken. Rita Widmer musste die Verantwortung für die Käseherstellung übernehmen. «Das ist der Vorteil von grösseren Alpteams», sagt Widmer, «hier helfen viele Schulter tragen und ein Ausfall kann besser abgefedert werden, als wenn man zu zweit eine Alp bewirtschaftet.»
7.30 Uhr - Offene Hof- und Haustüre
Die Milch im Kessi ist jetzt 22 Grad warm. Rita Widmer gibt die Kulturen, also die Milchsäure-Bakterien, in die Milch. Ihre Augen wandern immer wieder auf das Thermometer. Danach auf die Wanduhr. «Die Alp ist nicht so zeitlos, wie viele Leute denken», sagt Rita Widmer und lacht, «die Uhr ist eines unserer wichtigsten Instrumente.»
Die einzelnen Arbeitsschritte, die jeweiligen Temperaturen und Zeiten hält sie akribisch in einer Tabelle fest. Sie nimmt es genau. Das muss sie. Denn die Richtlinien für AOP-Käse sind streng und einmal pro Sommer wird die Alp Bösbächi kontrolliert.
Widmer misst die Menge des Labs ab und mischt es mit routinierten Bewegungen unter die Milch. Das Lab besteht aus den Enzymen Chymosin und Pepsin und bewirkt, dass die Milch gerinnt, also dick wird. Dazu muss die Milch mit den Kulturen und dem Lab 30 Minuten ruhen. Genug Zeit, um ein schnelles Frühstück zu nehmen und bei Reto Widmer im Käsekeller vorbeizuschauen.
Reto Widmer (34) ist gelernter Zimmermann und Landwirt. Er verbrachte einige Alpsommer im Bündnerland. Zuletzt drei Jahre auf der Alp Carmenna bei Arosa, wo auch Rita Widmer für einen Sommer dazu stiess. Sie waren zu zweit, ohne Käseverarbeitung, aber mit 96 Milchkühen. Es folgten vier gemeinsame Sommer auf der benachbarten Alp Sattel. Hier kümmerten sich die beiden um 120 Milchkühe.
Auf die Alp Bösbächi in ihrem Heimatkanton kamen die beiden durch eine glückliche Wende. «Auf Bösbächi wurden damals unsere Geissen gesömmert», erklärt Rita Widmer. Ihr Mann war ein Sommer auf Bösbächi angestellt. Widmers waren völlig überrascht, als bekannt wurde, dass Bösbächi neu verpachtet werden sollte.
«Erfahrung im Umgang mit Touristen»: Mag lustig tönen, aber das war tatsächlich eine Voraussetzung, die das künftige Älplerpaar mitbringen musste. Denn Bösbächi liegt direkt an einem Rundwanderweg zwischen den Glarner Gemeinden Braunwald und Luchsingen. Für Widmers war das nach ihren Sommern in Arosa kein Problem und es war mit ein Grund, dass sie den Zuschlag für die Pacht ab Sommer 2016 erhielten.
«Wir haben eine offene Hof- und Haustüre», sagt Rita Widmer. Sie lässt sich gerne über die Schulter schauen: «Wie sollen die Leute sonst wissen wie es auf einer Alp läuft?» Widmers empfangen auch Schulklassen und kurze Alpeinsätze für Interessierte sind möglich.
8.30 Uhr - Abschalten und erholen?
Im Kessi befindet sich nun die eingedickte, puddingähnliche Milch, die sogenannte Gallerte. In der Sennerei steigt die Spannung, denn der nächste Arbeitsschritt erfordert viel Präzision. Mit der Käseharfe schneidet Rita Widmer die Gallerte und der Käsebruch entsteht. Gleichzeitig rührt Zusennin Eliane Müller im Kessi und hält damit die Masse in Bewegung. Die Stücke sollen alle etwa die gleiche Grösse haben, nicht zu klein und nicht zu gross. Die Grösse des Bruchs ist für die Käsesorte mitentscheidend. Dasselbe machen die beiden Frauen bei der Gallerte für die Mutschli.
Für die nächsten eineinhalb Stunden übernehmen das Rührwerk und der Ofen die Arbeit. «Ein fauler Käser und ein fleissiger Salzer machen guten Käse», sagt Rita Widmer mit einem Augenzwinkern.
Für Rita Widmer ist das die erste Verschnaufpause. Die Frage, wie sie sich erhole und abschalte, versteht sie nicht. Fragend schaut sie drein: «Wir sind immer dran», sagt sie. «Abschalten ist nicht möglich, und ich brauche das auch nicht.»
Schon als Rita Widmer klein war, wollte sie Landwirtin werden und auf die Alp gehen. Auf Einwände wie «sie solle zuerst was Richtiges lernen», hörte sie nicht. Dass sie jemals eine so grosse Alp bewirtschaftet und die Milch selber verarbeiten würde, hätte sie nie zu träumen gewagt. «Meine Ausbildung als Landwirtin und die langjährige Erfahrung als Älplerin und Betriebshelferin haben sicher geholfen, bis hierher zu kommen», sagt Rita Widmer.
10 Uhr - Bronze für Alp- und Geissenkäse
Rita Widmers Blick wandert abermals zum Thermometer und auf die Wanduhr. 44,9 Grad zeigt das Thermometer an. Reto und Rita Widmer testen die Festigkeit des Bruchs von Hand. «Noch fünf Minuten», meint Reto Widmer.
Geschickt zieht Rita Widmer das Tuch unter den Bruch. Zusammen mit ihrer Zusennin macht sie das Tuch am Kran fest und zieht es hoch, schiebt den Kran über die vorbereitete rechteckige Form und setzt das Tuch mit dem Bruch ab. Die beiden drücken nun einen Grossteil der Schotte aus dem Bruch. Den viereckigen, Hüttenkäse-artigen Block zerschneidet Widmer in zwölf Stücke. Diese kommen nun in die runden Käse-Formen und werden danach mit Gewichten beschwert.
Der grösste Teil des Alpkäses von Bösbächi vermarktet die Käserei-Genossenschaft Glarona. Die Kuhmilch- und Geissenmilch-Mutschli verkaufen Widmers direkt, häufig an Wanderer.
Im 2019 nahmen Widmers an der Käseprämierung im österreichischen Galtür teil. Beurteilt werden die Lochbildung, die Qualität des Teiges, der Geschmack und das Aroma, und das Äussere (Form und Lagerfähigkeit).
Für den Alpkäse und den Geisskäse erhielten Widmers mit einer Punktierung 19 ¾ von 20 möglichen Punkten Bronze. «Und das mit dem Käse aus der Oberstafel-Milch», sagt Widmer sichtlich stolz. Die Milch von der Oberstafel gelangt durch eine Pipeline in die Sennerei der Mittelstafel. «Man sagt, dass solche Milch schwieriger zu verarbeiten sei.»
11 Uhr - Lange Arbeitstage – wenig Schlaf
«So, jetzt ist Schluss.» Sämtliche Utensilien sind abgewaschen und bereit für den nächstem Morgen um 4.30 Uhr. Zu Mittag gibt es Käse, Trockenfleisch und Wurst. Am Abend gibt es dann wieder etwas Warmes. «Meistens arbeiten wir bis 20 Uhr», sagt Rita Widmer. Ins Bett geht’s gegen 22 Uhr. Viel Schlaf braucht die 34-Jährige offenbar nicht.
Landwirtin Rita Widmer geht das ganze Jahr z Alp
Kaum ein Tag ist auf der Alp gleich wie der andere. Im Moment steht das Käsen im Vordergrund, an einem anderen Tag zäunt Rita Widmer. Für die leidenschaftliche Älplerin ist es die schönste Zeit des Jahres, wenn sie mit der ganzen Familie auf Bösbächi ist.
Der Beginn der Alpsaison ist jeweils sehr streng. Die Landwirtin arbeitet die neuen Angestellten ein und muss jeden Tag wieder ins Tal, wegen der Kinder und der Heuernte. Sobald die Kinder Ferien haben, sind dann alle fix auf Bösbächi. Die Älplerin ist froh, dass die Alpwirtschaft mit der aktuellen Agrarpolitik gut dasteht. Aber die Alpwirtschaft sei abhängig von den Talbetrieben. «Gehen immer mehr Betriebe im Tal ein, fehlen den Alpen plötzlich die Kühe», sagt Widmer.
Auf das Älplerpaar wartet ab 2021 eine neue Herausforderung – und noch mehr Arbeit: Widmers übernehmen den Rütihof von Ritas Eltern in Bilten GL. Ihr Vater wird die beiden jedoch tatkräftig unterstützen.
Aber jetzt freut sie sich auf den Herbst und schweift in Gedanken. «Eigentlich ist man das ganze Jahr ein bisschen z Alp.» Es wartet die Büro-Arbeit und die Personalsuche für den nächsten Sommer. «Meistens haben wir gute Leute», sagt sie. Andreas Güntensperger sei schon den fünften Sommer auf Bösbächi. Anfangs Winter kalben die Kühe und die Geissen bekommen die Gitzi im Februar. «Und ehe man sich versieht, sind wir wieder auf der Alp», sagt Rita Widmer und strahlt.
Betriebsspiegel Rütihof, Unteres Gfell und Alp Bösbächi
Rita und Reto Widmer mit Markus (9) und Felix (7) aus Niederurnern GL
LN:30 ha, Alp Bösbächi: 301 ha nutzbare Fläche
Bewirtschaftung: ÖLN
Betriebszweige: Alpwirtschaft (148 Stösse) mit Käseherstellung (Glarner Alpkäse AOP, Alpraclette, Mutschli, Ziegenkäse), Milchproduktion, Kälbermast
Tierbestand:50 Milchkühe, 30 Rinder, 22 Milchgeissen
Arbeitskräfte:Rita und Reto Widmer, Rita Widmers Eltern und Grossmutter (Rütihof), vier Mitarbeitende (Alp)
www.dgrn.ch/boesbaechi
AOP: Produktion und Verarbeitung in der Region
AOP steht für «Appellation d’Origine Protégée», auf Deutsch also «geschützte Ursprungsbezeichnung». So ausgezeichnete Produkte werden in einer klar definierten Region erzeugt, verarbeitet und veredelt.
Beim AOP-Käse stammt die Milch aus derselben Region, in der sie verkäst und in welcher der Käse bis zur Reife gepflegt wird. Momentan tragen zwölf Schweizer Käsesorten ein AOP-Gütesiegel:
- Berner Alp- und Hobelkäse AOP
- Bloder-Sauerkäse AOP
- Emmentaler AOP
- Glarner Alpkäse AOP
- L’Etivaz AOP
- Le Gruyère AOP
- Raclette du Valais AOP
- Sbrinz AOP
- Tessiner Alpkäse AOP
- Tête de Moine AOP
- Vacherin Fribourgeois AOP
- Vacherin Mont-d’Or AOP
Für die bekannten AOP-Käse der Schweiz werden Bakterien verwendet, die vor rund 40 Jahren in der Milch natürlich vorhanden waren und seither von Agroscope weitergezüchtet und dort als Stammkulturen von den Käsereien bezogen werden können.
Quelle: www.schweizerkaese.ch