Als optimale Stalltemperatur für Milchvieh wird häufig der Bereich von 0 bis 16 Grad angegeben. Diese «aktuellen» Daten zur Wohlfühl-Temperatur sind alles andere als aktuell. Sie stammen aus dem Jahr 1984 (von Koller und Süss: 0 bis 16 Grad Celsius) oder sogar 1968 (Bianca: 4 bis 16 Grad). «Erst» bei 16 Grad – so glaubte man bisher – beginnt für die Milchkühe der Hitzestress.
Die durchschnittliche Milchleistung von Milchkühen in der Schweiz ist seit 1968 aber massiv angestiegen:
Jahr | Kilo Milch/Jahr |
1968 | 3370 kg |
1998 | 5500 kg |
1984 | 5230 kg |
2019 | 6972 kg |
2022 | 7084 kg |
Eine durchschnittliche Schweizer Milchkuh gibt 2022 also mehr als doppelt soviel Milch wie vor 50 Jahren. Von Hochleistungs-Milchkühen mit über 10'000 Kilogramm gar nicht zu reden. Und diese massiv gestiegene Milchproduktion hat einen grossen Einfluss auf die Wärmeproduktion der Tiere.
Bei Hitzestress atmen die Milchkühe stark oder fressen weniger. Die Kühe versuchen instinktiv, Wärme abzugeben und weniger Verdauungswärme zu produzieren. Das Resultat: Die Milchleistung sinkt. Dazu kommen Symptome wie hohe Zellzahlen im Sommer und Herbst und auch erhöhte Lahmheitsraten aufgrund von infektiösen Klauenerkrankungen im Bestand.
Bei Milchkühen zeigt die Vormagentemperatur den Hitzestress an
Olaf Tober und Christiane Hansen von der Landesforschungsanstalt für Landwirtschaft und Fischerei Mecklenburg-Vorpommern haben «Untersuchungen zur Abhängigkeit der Vormagentemperatur VMT von der Stalltemperatur bei laktierenden Kühen in einem frei gelüfteten Stall» angestellt.
Die deutschen Wissenschaftler sind zu einem verblüffenden Ergebnis gekommen: Milchkühe sind schon ab 8 Grad Celsius nicht mehr in der Lage, ihre Vormagentemperatur VMT (und damit die Körpertemperatur) konstant zu halten.
Wie haben die Wissenschaftler die Milchkühe untersucht?
Die Wissenschaftler untersuchten 2016 und 2017 auf einem Praxisbetrieb in Mecklenburg-Vorpommern eine Herde mit 480 Holsteiner Milchkühen mit einer Leistung von rund 11'000 Kilogramm Milch pro Jahr.
Die Tiere stehen in einem frei gelüfteten Laufstall, in dem die Längsseiten mit Windbrechnetzen versehen sind. Bei extremen Wetterlagen wie Sturm, Frost und Schlagregen können Jalousien verschlossen werden.
Vier Deckenventilatoren mit einem Durchmesser von jeweils 7 Metern sind im Stall über dem Futtertisch installiert. Die Ventilatoren sorgen für höhere Luftgeschwindigkeiten im Stall, welche die Tiere abkühlen. Die Ventilatoren sind so eingestellt, dass sie ihre maximale Leistung ab 10 Grad Stalltemperatur aufwärts erreichen.
Mit Datenloggern wurden stündlich die Lufttemperatur und die relative Luftfeuchte erfasst.
Die Futteraufnahme der laktierenden Tiere wurde über das Mischwagenprotokoll abzüglich der täglich erfassten Restfuttermengen berechnet. Der Trockenmassegehalt der verfütterten Rationen wurde jede Woche analysiert, die tägliche Milchmenge anhand der automatischen Milchmengenerfassung berechnet.
Temperaturmess-Boli haben die Vormagentemperatur VMT rund m die Uhr gemessen
Bei 41 laktierenden Milchkühen haben zylinderförmige Temperaturmess-Boli (lateinisch bolus = Ball) die Vormagentemperatur VMT als Stundenmittelwerte (Messfrequenz: 15 Min.) erfasst. Werte, die von der Wasseraufnahme beeinflusst waren, wurden entfernt.
Die Untersuchungen zeigten, dass die Vormagentemperatur VMT im Bereich von -1 bis +7 Grad Celsius Stalltemperatur stabil bleibt. Ab 8 Grad Stalltemperatur ist aber ein deutlicher VMT-Anstieg von 39,0 auf 39,4 Grad Celsius zu erkennen.
Die Untersuchungen zeigen, dass Milchkühen ab 8 Grad zu warm ist
Gemäss dem sogenannten thermoneutralen Zonen-Konzept verlässt ein Tier die thermoneutrale Zone, wenn es nicht mehr in der Lage ist, die endogene (= innere) Wärme vollständig abzuführen und es dadurch zum Anstieg der Körpertemperatur kommt (in der Untersuchung die Vormagentemperatur VMT der Milchkühe).
Bisher geht man davon aus, dass die obere kritische Temperatur für Milchkühe mit einer Leistung von 20 Kilogramm pro Tag bei 16 Grad liegt.
Die deutschen Wissenschaftler gehen nun davon aus, dass der Komfortbereich der Stalltemperatur massiv tiefer liegt: «Die obere Grenztemperatur des Optimalbereiches dürfte deutlich unter 8 Grad Celsius sein.»
Olaf Tober und Christiane Hansen fordern deshalb, «die üblichen Empfehlungen zu optimalen Temperaturbereichen in der Milchviehhaltung dringend zu überarbeiten». Für die praktische Milchviehhaltung heisst das, dass spätestens ab 8 bis 10 Grad Celsius Stalltemperatur damit begonnen werden muss, die Tiere mit technischen Mitteln effektiv bei der Thermoregulation zu unterstützen.