Die im März 2021 schubladisierte Agrarpolitik AP22+ und die am 13. Juni 2021 abgelehnten Trinkwasser- und Pestizid-Initiativen haben etwas gezeigt: Eine von allen anderen Faktoren abgekoppelte Schweizer Agrarpolitik funktioniert nicht.
Auf dem Weg in die Zukunft braucht die Schweiz eine Agrarpolitik, welche die sechs wichtigsten «Stakeholder» kohärent aufeinander abstimmt:
- Landwirtschaft
- Umwelt
- Raumplanung
- Gesundheit
- Wirtschaft
- Gesellschaft
«die grüne»-Chefredaktor Jürg Vollmer machte deshalb im Juni 2021 «10 Vorschläge für eine konstruktive Agrarpolitik».
Diese Vorschläge wurden von zehn führenden Akteuren der Schweizer Landwirtschaftspolitik wohlwollend bis kritisch kommentiert (wir berichteten hier) und nun auch mit eigenen Vorschlägen ergänzt (siehe unten):
- Agrarallianz: Hansjürg Jäger, Geschäftsführer
- Agroscope: Eva Reinhard, Leiterin
- Bio Suisse: Urs Brändli, Präsident
- ETH Zürich: Robert Finger, Prof. für Agrar-ökonomie und Agrarpolitik
- Fenaco: Verzichtet auf eine Stellungnahme
- IG BauernUnternehmen: Samuel Guggisberg, Präsident
- Massentierhaltungs-Initiative: Meret Schneider, Nationalrätin
- Schweizer Bauernverband SBV: Markus Ritter, Präsident
- Schweizer Tierschutz STS: Stefan Flückiger, Geschäftsführer
- Scienceindustries, Schweizer Wirtschaftsverband Chemie Pharma Life: Sciences Anna Bozzi, Leiterin Ernährung& Agrar
Hansjürg Jäger, Geschäftsführer Agrarallianz
Die Agrarpolitik begleitet idealerweise die Entwicklung der Landwirtschaft im Verständnis, «schlechte» Entwicklungen zu reduzieren und «gute» Entwicklungen zu fördern. Das heisst: Agrarpolitik sollte die Reduktion der negativen Umweltwirkung der Landwirtschaft vorwärts zu treiben und nachhaltigere Landwirtschaftsformen fördern.
Dass heute Fehlanreize bestehen, zeigen diverse Studien (zum Beispiel der WSL oder der Agroscope) und volkswirtschaftliche Betrachtungen.
Die Agrarpolitik macht das nicht im luftleeren Raum, sondern immer im Kontext von Märkten – sie greift ein in das Wirtschaften von Unternehmen und Betrieben.
Zwei Punkte sind bei dieser Betrachtung entscheidend: Erstens gibt es kaum eine Massnahme, die nicht irgendwo auf Kritik stösst. Zweitens ist es letztlich ein Massnahmen-Mix, der Wirkung entfalten soll.
Die Diskussion über die langfristige Ausrichtung der Landwirtschaft zeigt zudem sehr deutlich, dass es bezüglich Zielen kaum Differenzen gibt: Im Zentrum steht eine Landwirtschaft, die natürliche Ressourcen schützt und nutzt, Perspektiven für alle Akteure schafft. Streitpunkte gibt es bezüglich den dafür notwendigen Massnahmen und des richtigen Tempos.
Wichtig aus Sicht der Agrarallianz ist, dass die Agrarpolitik Perspektiven schafft, Potenziale auf Betrieben und in der Wertschöpfungskette nutzt, Probleme löst statt bewirtschaftet, zu einer in allen Dimensionen nachhaltigeren Produktion führt.
Es braucht dazu die Zusammenarbeit aller Akteure, der Einbezug der LandwirtInnen, der KonsumentInnen, des Handels und der Verarbeitungsbetriebe.
Eva Reinhard, Leiterin Agroscope
Mir fehlt der grundsätzliche Fokus des Landwirtschafts-Rechts. Dieses beinhaltet viele Verbote, Restriktionen und Handlungsmassnahmen, welche gut arbeitende LandwirtInnen einschränken.
Zudem wird die standortgerechte Landwirtschaft nur rudimentär abgebildet. Die Regionen der Schweiz unterscheiden sich stark – nicht überall sind dieselben landwirtschaftlichen Massnahmen zielführend oder schädlich.
Die optimale Lösung kenne auch ich nicht. Aber wir sollten das umsetzen, was wir bereits wissen und darüber nachdenken, was wir weiter verbessern könnten.
Urs Brändli, Präsident Bio Suisse
Bei den «10 Vorschlägen für eine konstruktive Agrarpolitik» fehlt die Kostenwahrheit! Würden die wahren Kosten in unseren Konsumgütern abgebildet, bräuchten wir kaum Verbote.
Fleisch würde rund doppelt so teuer. So liesse sich der Konsum moderat reduzieren und der pflanzlichen Anteil der Ernährung erhöhen. Das wäre gut für Klima und Gesundheit, und gleichzeitig würde der Eigenversorgungsgrad gesteigert. Lenkungsabgaben sind ein richtiger Schritt in diese Richtung.
Dass mehr Bio eine gute Lösung sein kann, mit konkreten Zielen für Bio-Anbau und Bio-Konsum, zeigen Beispiele wie jene der Kantone Bern und Wallis, aber auch die deutschen Bundesländer Bayern und Baden-Württemberg. Sie alle benennen Zielwerte und Zeiträume, in denen Teile der Landwirtschaft biologisch werden sollen.
Wenn wir von einem Bio-Land Schweiz sprechen, dann meinen wir damit nicht nur die Landwirtschaft, sondern die ganze Kette vom Feld bis auf den Teller. Das ganze Ernährungssystem muss so gestaltet werden, dass auch zukünftige Generationen noch gute Lebensbedingen vorfinden. Darum muss die Politik im Dialog weiterentwickelt werden.
Die 10 Vorschläge entsprechen eher landwirtschaftlichen Forderungen. Die Bedürfnisse der Bevölkerung (als KonsumentInnen und SteuerzahlerInnen) berücksichtigen sie wenig.
Robert Finger, Agrarökonom der ETH Zürich
In der Schweizer Agrarpolitik braucht es einen Paradigmen-Wechsel:Weg von einer auf Massnahmen ausgerichteten Politik hin zu einer stärkeren Ergebnis-Orientierung. Es braucht klare, quantifizierbare Ziele.
Und Landwirte brauchen Freiheiten, um diese Ziele effizient zu erreichen. Sie müssen stärker für eine echte Ziel-Erreichung – als für das Umsetzen spezifischer Massnahmen – entlöhnt werden.
Die Agrarpolitik sollte dabei zudem weniger auf einzelne Betriebe fokussieren. Ziele wie Biodiversität, Landschaft, Klimaschutz und Gewässerschutz sind letztlich nur gemeinsam zu erreichen. Agrarpolitische Massnahmen sollten daher vermehrt überbetrieblich formuliert werden.
Auch hier lässt eine stärkere Ergebnisorientierung genügend Freiheiten für die individuelle Gestaltung der Koordination zwischen Betrieben und anderen Akteuren des Agrar- und Ernährungs-Systems. So kann das Erreichen von überbetrieblichen Zielen, wie das Nichtverschmutzen von Grund- und Oberflächen-Gewässern oder das Erreichen bestimmter Biodiversitäts-Niveaus stärker Grundlage für Zahlungen und Anreize werden.
Es braucht eine explizite Ausrichtung am Markt. Nachhaltigere und innovative Produktion und Produkte sollen und können auch am Markt Mehrwerte realisieren. Die Politik sollte dies ermöglichen und nicht behindern.
Es braucht eine klare Fokussierung auf sozialen Nachhaltigkeits-Ziele im gesamten Agrar- und Ernährungs-System. Eine Agrarpolitik und Ernährungspolitik, die das gesamte Ernährungssystem im Inland und Ausland mit einbezieht, muss sowohl die ökonomische und ökologische, aber auch die soziale Nachhaltigkeit auf allen Stufen sicherstellen.
Samuel Guggisberg, Präsident IG BauernUnternehmen
Statt Verbote sollten wir mehr Innovation fördern. Bei Investitionen in Smart Farming, beispielsweise in eine Feldspritze mit Kameratechnik, sollen Landwirte und Lohnunternehmer finanziell unterstützt werden.
Damit werden modernere und präzisere Techniken schneller auf einer grösseren Fläche eingesetzt und reduzieren so den Wirkstoffeinsatz.
Meret Schneider, Nationalrätin
Da wir uns in Zukunft sehr viel pflanzenbasierter ernähren müssen, wäre es wichtig, den Anbau pflanzlicher Kulturen wie Lupinen, Soja und Eiweisserbsen für die menschliche Ernährung finanziell sowie mittels Forschung und Weiterbildungs-Angeboten stärker zu fördern und attraktiver zu gestalten.
Die Proteinversorgung der Zukunft wird je länger je mehr über pflanzliche Kulturen erfolgen; Firmen und Startups produzieren vielversprechende Alternativen zu den wenig standortgerechten Geflügel- und Schweinefleischprodukten, doch sind sie aktuell oft noch auf Erbsen oder Lupinen aus dem nahen Ausland angewiesen.
Es wäre grossartig und eine Chance für die Schweizer Bauern, wenn Schweizer Startups und KMU auch mit Schweizer Rohstoffen produzieren könnten und da ein Angebot in entsprechendem Ausmass bestünde. Bio-Soja statt Broiler-Mast, Lupinen-Felder statt Lege-Hybriden!
Markus Ritter, Präsident Schweizer Bauernverband SBV
Uns ist wichtig, dass das Grenzschutz-System mindestens erhalten bleibt oder produktspezifisch sogar erhöht wird.
Dabei müssen aber die Grenzschutz-Massnahmen und die Bewirtschaftung der Importkontingente an die gesellschaftlichen Erwartungen (Nachhaltigkeitsanforderungen) und an die Konsum-Gewohnheiten angepasst werden.
Stefan Flückiger, STS
Obwohl das Bundesamt für Landwirtschaft BLW seit 20 Jahren alle vier Jahre die Themen betreffend ihrer Wichtigkeit und der Zahlungsbereitschaft bei der Bevölkerung per Umfrage ermittelt und seit 1996 die «Tierfreundliche Haltung» immer vor allen Umwelt- und Versorgungsthemen obenaus schwingt, findet keine Diskussion über den Einsatz der Mittel statt. Heute werden nur 270 Mio Franken für das Tierwohl ausgegeben – also nur 9 Prozent der Direktzahlungen. Der Markt wird sich aus der Tierwohl-Stagnation nur befreien können, wenn der Bund mehr Mittel und Massnahmen dafür einsetzt, um die Transformationen der Ernährungssysteme in Richtung Nachhaltigkeit und Tierwohl wirksam voranzubringen.
Anna Bozzi, Scienceindustries
Innovationen müssen schnell den Weg zum Markt finden, um ihre positive Wirkung für die Gesellschaft und Umwelt entfalten zu können. Dazu braucht es einen wissenschaftsbasierten Zulassungsprozess mit klaren Fristen und innovationsfreundliche Rahmenbedingungen.
Das gilt für alle Produkte, also nicht nur für Pflanzenschutzmittel, sondern genauso auch im Gesundheitsbereich bei Impfstoffen, Antibiotika und Arzneimitteln.
Das aktuelle Schweizer Zulassungsverfahren ist im internationalen Vergleich schon seit Jahren sehr langsam. Der Zugang von neuen Produkten zum Schweizer Markt ist im Moment aus politischen Gründen nicht gewährleistet. Das ist für die regionale Landwirtschaft, aber auch und insbesondere für den Umweltschutz nicht zielführend, denn neue Wirkstoffe sind in der Regel spezifischer, wirksamer und umweltverträglicher.
Wenn echte und nachhaltige Risikoreduktion vorangetrieben werden soll, dürfen nicht nur Mittel verboten werden, sondern müssen auch neue, selektivere und umweltverträglichere Produkte auf den Markt kommen.
Dass neue Produkte, die in unseren Nachbarländern längst zum Einsatz kommen, in der Schweiz auch fünf Jahre später immer noch nicht verwendet werden dürfen, ist aus Sicht der Industrie nicht akzeptabel.
Ernährungs-Systeme umfassen die Wertschöpfungskette – und damit nebst der Landwirtschaft die ganzen vor- und nachgelagerten Branchen.
Statt Mikromanagement auf der landwirtschaftlichen Ebene müssen die Interdependenzen und Zielkonflikte angeschaut und adressiert werden. Die gerechte Verteilung der Margen über die ganze Wertschöpfungskette darf nicht ausgeblendet werden (insofern ist Vorschlag 8 der gerechten Margenverteilung hier aufzunehmen).
Daher braucht eine Wiederauflage der Agrarpolitik, ergänzt um eine Ernährungspolitik, eine Regulierungsfolgen-Abschätzung vor Behandlung durch das Parlament, so dass dieses informierte Entscheide treffen kann.