Herr Herrmann, wie geht es der Biodiversität in der Schweiz?

Manuel Herrmann: Agroscope schreibt 2021 zum Zustand der Biodiversität in der Agrarlandschaft: «Etwa seit Mitte des 20. Jahrhunderts nahmen die grossen Biodiversitätsverluste in der Agrarlandschaft mit der Intensivierung der landwirtschaftlichen Bewirtschaftung ihren Anfang und sind besonders in den tieferen Zonen weit fortgeschritten.»

Dagegen wird schon etwas getan. Und doch schreibt der Bundesrat im Bericht «Umwelt Schweiz 2022»: «Die punktuellen Erfolge können die Verluste, welche vorwiegend auf mangelnde Fläche, Bodenversiegelung, Zerschneidung, intensive Nutzung sowie Stickstoff- und Pflanzenschutzmitteleinträge zurückzuführen sind, nicht kompensieren.»

Biodiversität und Lebensmittelproduktion: Da besteht ein gewisser Zielkonflikt respektive eine Flächenkonkurrenz auf den landwirtschaftlichen Betrieben. Wo liegt hier das Optimum?

Biodiversität und Lebensmittelproduktion gehen Hand in Hand, weil sie sich gegenseitig unterstützen. Und weil moderner Naturschutz und standortangepasste Landwirtschaft sich nicht ausschliessen. Der grösste Teil der Schutzgebiete der Schweiz – ausser dem Nationalpark, den wenigen noch erhaltenen Hochmooren und den Naturwaldreservaten – wird land- und forstwirtschaftlich genutzt. Die Kombination von Schützen und Nutzen soll mit der Biodiversitäts-­Initiative gefördert werden.

Der Initiativtext ist offen formuliert. Welche konkreten Umsetzungsmassnahmen erwarten Sie von der Landwirtschaft, falls die Initiative angenommen wird?

Die Biodiversitäts-Initiative fügt einen neuen Artikel in die Bundesverfassung ein. Verfassungsartikel legen Grundsätze fest. Die Biodiversitäts-Initiative verlangt, dass Bund und Kantone die erforderlichen Flächen und Mittel für die Sicherung und Stärkung der Biodiversität, unserer Lebensgrundlage, bereitstellen.

Der Bundesrat, das Parlament und die Kantone werden nach der Annahme der Initiative die Umsetzung konkretisieren. So steht es im Initiativtext.

Mit dem Gegenvorschlag zur Biodiversitäts-Initiative, der an einer knappen Mehrheit im Ständerat scheiterte, liegt bereits eine breit abgestützte Vorlage zu einer möglichen Umsetzung vor. Zudem gibt es zahlreiche Beispiele (Klettgau, Obstgarten Farnsberg, Campagne genevoise), die heute aufzeigen, wie Biodiversitätsförderung und landwirtschaftliche Produktion erfolgreich miteinander kombiniert werden können.

Wäre bei einer Annahme der Initiative zu erwarten, dass für Biodiversitätsförderflächen (BFF) mehr Direktzahlungen ausbezahlt werden?

Die Biodiversitäts-Initiative verlangt von Bund und Kantonen, die notwendigen Mittel zur Sicherung und Stärkung der Biodiversität bereitzustellen. Die Direktzahlungen für die BFF laufen über den Zahlungsrahmen Landwirtschaft. Bei der Biodiversitäts-Initiative hingegen geht es vorrangig um das UVEK-Budget für Natur und Landschaft. Schon heute gehen von diesen Mitteln 40 Prozent an Landwirtinnen und Landwirte, die zusätzliche Leistungen für die Biodiversität erbringen.

Wenn die Umsetzung – wie vom SBV gesagt – zusätzlich 400 Millionen Franken kostet, dürften dank der Biodiversitäts-Initiative also rund 160 Millionen Franken an die Schweizer Bauernfamilien gehen. Ein grosser Teil der übrigen Mittel fliesst in die Wald- und in die Bauwirtschaft.

Welche anderen Branchen werden bei einer Annahme der Initiative Massnahmen ergreifen müssen?

Die erforderlichen Flächen und Mittel, die Bund und Kantone nach Annahme der Biodiversitäts-Initiative bereitstellen sollen, betreffen alle Räume, auch den Siedlungsraum. Naturnahe Grünflächen, Bäume und Gewässer sind dort besonders wichtig, um die Folgen des Klimawandels zu mildern. Es wird an den Kantonen und Gemeinden sein, mit welchen Instrumenten sie umsetzen.

Hätte die Annahme der Biodiversitäts-Initiative einen Einfluss auf das angenommene Stromgesetz?

Die rechtliche Ausgangslage zur Umsetzung des Stromgesetzes ändert sich durch die Annahme der Biodiversitäts-Initiative nicht. Die grossen Umweltorganisationen, die sich für die Biodiversitäts-Initiative einsetzen, haben sich alle auch für das neue Stromgesetz engagiert.