Frau Contzen, was genau muss man sich unter Agrarsoziologie vorstellen?

Sandra Contzen: Die Agrarsoziologie untersucht die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen in der Landwirtschaft. Auch der Einfluss der Strukturen wie die Politik und die Gesellschaft spielen dabei eine Rolle. Wir möchten wissen: Wie wird in der Landwirtschaft gehandelt? Welche Normen, Werte und Traditionen stecken hinter diesen Handlungen?

Eine ketzerische Frage: Was bringt das der landwirtschaftlichen Bevölkerung?

Nehmen wir ein konkretes Beispiel. Die Hofübergabe ist ein wichtiger und einschneidender Moment, der zwei Mal im Leben kommt: Bei der Übernahme und bei der Übergabe. Als Agrarsoziologin stelle ich hier die Frage: Was spielt sich bei diesem Prozess zwischen den Menschen ab? Was könnte man tun, um Konflikte zu vermeiden und die Übergabe für alle Parteien besser zu gestalten?

Und haben Sie eine Antwort gefunden?

In diesem konkreten Fall haben wir einige Interviews durchgeführt und ausgewertet und in Zusammenarbeit mit Bauernfamilien und Beratungspersonen ein Spiel mit dem Namen «Parcours» entwickelt. Dieses Spiel leistet einen Beitrag, damit man sich den weichen Aspekten der Hofübergabe bewusster wird und dieser Prozess so hoffentlich auch erfolgreicher abläuft. Rund 120 Personen haben das Spiel bereits bestellt.

Legen wir in der Landwirtschaft den Fokus zu stark auf die Produktion, die Wirtschaftlichkeit und die Ökologie und vernachlässigen dabei den sozialen Bereich?

Das ist vermutlich leider so. Das ist aber nicht nur ein landwirtschaftliches Phänomen. Nachhaltigkeit hat drei Ebenen: Ökologie, Ökonomie und die soziale Ebene. Es ist oft so, dass das Soziale stiefmütterlich behandelt wird.

Haben Sie ein konkretes Beispiel dafür?

In der Zentralschweiz führt die Geruchs- und Ammoniakbelastung durch die Landwirtschaft immer wieder zu Konflikten. Ein Projekt nimmt sich nun dem Problem an. Bei der Ausarbeitung wurde zu Beginn aber nur das Technische beachtet.

Die Agrarsoziologie wurde erst später mit an Bord geholt. Wir können helfen herauszufinden, wo genau der Schuh drückt. Wieso ist der Dialog zwischen landwirtschaftlicher und nicht-landwirtschaftlicher Bevölkerung schwierig? Was könnte man ändern? Was kann die landwirtschaftliche Bevölkerung tun?

Wieso werden «weiche» Faktoren oft erst spät einbezogen?

Ein Projekt wird komplexer, je mehr Parteien und Disziplinen involviert sind. Die Koordination ist aufwändig und braucht Zeit. Diese Zeit fehlt oft, um daran zu denken, etwas interdisziplinär auf die Beine zu stellen.

Gibt es viele potenzielle gute Projekte für die Landwirtschaft, die nicht realisiert werden, weil den weichen Faktoren zu wenig Bedeutung beigemessen wird?

Ich vermute schon, ja. Die beste Idee für eine Optimierung in der Produktion oder eine Reduktion an Umweltbelastungen nützt überhaupt nichts, wenn sie von den Menschen nicht akzeptiert wird.

Am Schluss sind es immer Menschen, die entscheiden, ob sie etwa zusammenarbeiten oder eine neue Technologie einsetzen möchten.

Wenn diese Menschen nicht abgeholt werden und nicht auf ihre Bedürfnisse eingegangen wird, nützt die beste Idee nichts.

Gerade Traditionen sind in der Landwirtschaft etwas sehr Reales und müssen bei Projekten mit einbezogen werden. Sonst besteht die Gefahr, Leerläufe zu produzieren.

Was können Sie letztendlich tun, damit die Erkenntnisse der Agrarsoziologie in der Praxis stärker berücksichtigt werden?

Um es banal zu formulieren: Wir müssen Werbung für unsere Disziplin machen. Dazu sind erfolgreiche Projekte wie beispielsweise das Hofübergabe-Spiel «Parcours» hilfreich. Aber das ist letztendlich ein wichtiger Teil meines Jobs: den Nutzen unserer Arbeit aufzeigen.

Wäre es hilfreich, wenn das Fach Agrarsoziologie Pflichtstoff im Unterricht würde?

Nein, das fände ich keine gute Idee. Es ist auch keine gute Idee, Landwirtinnen und Landwirte zu zwingen, an einem Seminar zu «Lebensqualität in der Landwirtschaft» teilzunehmen. Ich finde es viel wichtiger, dass soziale Fragen in andere Unterrichtseinheiten einfliessen, etwa in die Hofübergabe oder strategische Planung. Bei den Landwirten fände ich es auch interessant, wenn die sozialen Fragen einfach zu einem selbstverständlichen Teil fachlicher Weiterbildungen würden.

Wie könnte das aussehen?

Dass zum Beispiel in einem Kurs zu Digitalisierung in der Landwirtschaft auch darüber diskutiert wird, wie die durch Robotik gewonnene Zeit genutzt werden kann. Nämlich nicht nur für in einen neuen Betriebszweig oder ausserlandwirtschaftlichen Erwerb, sondern auch für sich, die Partnerschaft, Familie. Zur Reduktion von Stress oder einfach zum Nachdenken.

Ist die Agrarsoziologie auf dem Weg, breiter akzeptiert zu werden? Immerhin wurde mit Ihnen an der HAFL erstmals eine Dozentin für Agrarsoziologie eingestellt.

Ich bin nun seit rund 15 Jahren im Gebiet der Agrarsoziologie tätig. Ich habe den Eindruck, dass das Bewusstsein für die Themen meines Fachgebietes laufend zunimmt, wenn auch nicht rasend schnell. Das stimmt zuversichtlich, aber die Hausaufgaben gehen uns vorerst gewiss nicht aus.

Ist es denkbar, künftig an Veranstaltungen wie beispielsweise einem Flurgang oder anderen Fachtagungen Inputs seitens der Agrarsoziologie präsentiert zu bekommen?

Das wäre eine interessante Idee. Mir ist es wie gesagt wichtig, dass wir soziale Themen nicht losgelöst, sondern eingebettet in fachliche Themen betrachten. Das Ziel muss immer sein, einen Nutzen für die bäuerliche Bevölkerung zu generieren. Da wäre es sicherlich interessant, wenn wir in bereits bestehenden und bestens etablierten Gefässen Platz finden können.

Eine letzte Frage: Agrarsoziologie ist ihr Forschungsgebiet. Es gibt meines Wissens keine Schreiner-Soziologie oder Sanitär-Soziologie. Sind wir Bauern denn so speziell?

In der Landwirtschaft besteht manchmal das Gefühl, dass die landwirtschaftliche Bevölkerung ureigene Sorgen und Probleme hat. Es gibt jedoch viele Parallelen zu anderen KMU. Die Betriebsübernahme eines Familienbetriebes ist bei einem Schreiner nicht grundlegend anders als in der Landwirtschaft. Hier gäbe es Potenzial, gegenseitig voneinander zu lernen und sich vermehrt auszutauschen.

Ich würde deshalb sagen: Ja, die Landwirtschaft ist ein spezieller Mikrokosmos mit besonderen Eigenheiten. Aber es ist bei weitem nicht der einzige spezielle Mikrokosmos auf der Welt.

 

Zur Person

Dr. Sandra Contzen hat in Fribourg Sozialarbeit und Sozialpolitik studiert, bevor sie an der Uni Zürich ihr Doktorat in Humangeographie gemacht hat.

Der Kontakt zur Landwirtschaft entstand zufällig: 2003 schrieb sie ihre Lizenziatsarbeit über Betriebsleiterinnen in der Schweizer Landwirtschaft. 2006 wurde sie an der HAFL als wissenschaftliche Mitarbeiterin angestellt. Sandra Contzen war von 2014 bis 2020Präsidentin der Schweiz. Gesellschaft für Agrarwirtschaft und Agrarsoziologie.

2020 wurde sie als erste Dozentin für Agrarsoziologie an der HAFL gewählt. Sie befasst sich mit Lebensqualität, Hofübergaben, Genderaspekten oder Armut in der Schweizer Landwirtschaft.